Viel Emotion, wenig Vision: eine Reflexion zur State of the European Union Rede

September 19, 2022

Am Mittwoch hat die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ihre jährliche Rede zur Lage der EU im Europäischen Parlament in Straßburg gehalten. Seit 2010 halten der Präsident oder die Präsidentin der EU-Kommission diese Rede, angelehnt an die traditionelle State of the Union Speech in den USA. Folgend einer historischen Tradition soll die SOTEU abgekürzte Rede zu einer europäischen Identität und mehr Transparenz der europäischen Politik beitragen. Im politischen Brüssel und Straßburg ist es also das Highlight des Jahres und strahlt auch auf die Debatten in den Mitgliedsländern aus. In Zeiten von Krieg auf dem europäischen Kontinent und multiplen Krisen erwarte ich mir von der Kommissionspräsidentin eine inspirierende Vision, wie sich die EU reformieren kann und welchen Platz sie in der Welt einnehmen sollte. Stattdessen lieferte sie vor allem Schlagzeilen und Ankündigen in vielen Politik-Bereichen. Russlands Krieg, Energie-, Klima- und Wirtschaftskrise, Digitalisierung, Handel. Die Liste der Herausforderungen und Aufgaben ist lang und die Bürger:innen können zurecht Antworten und mehr Zukunftsvision erwarten.

 

Von der Leyen beschrieb zutreffend, dass der große Konflikt unserer Zeit 'Autokratie vs Demokratie‘ heißt. Deswegen brauchen wir eine Allianz der Demokratien und müssen uns konsequent für einen intakten Rechtsstaat und demokratische Werte in- und außerhalb der EU einsetzen. Sie betonte, dass wir unsere Abhängigkeit von Russland dafür minimieren müssen. Leider blieb sie konkrete Vorschläge schuldig, wie wir eine strategische Allianz der Demokratien bauen können und ihr schwacher Kurs gegenüber Ungarn und Polen, die innerhalb den Rechtsstaat abbauen, fällt weit hinter ihre leidenschaftlichen Reden für europäische Werte zurück.

Auch bei der Handelspolitik, die ein wichtiger Baustein zur Zusammenarbeit mit anderen Demokratien und zur Reduzierung von Abhängigkeiten von Autokratien wie China und Russland ist, hat sie nur die Mindestanforderungen erfüllt. Die Abkommen mit Neuseeland, Chile und mit Mexiko will sie zur Ratifizierung vorlegen. Die Gespräche zu Handelsabkommen mit Australien und Indien sollenvorangetrieben werden. Allerdings kein Wort zum fertig verhandelten Mercosur-Abkommen. Keine Aufforderung an die Mitgliedsländer endlich das EU-Kanada Abkommen CETA vollständig zu ratifizieren. Dabei handelt es sich um bestehende oder im Entstehen befindende Abkommen. Der große Wurf um die EU handelspolitisch zu diversifizieren und unsere Abhängigkeiten von Autokratien abzubauen, ist das aber klar nicht. Dabei bräuchten wir gerade jetzt eine handelspolitische Offensive, vor allem mit demokratischen Partnern.
Und leider wird der ambitionslose Eindruck in der Handelspolitik noch durch ihre Aussagen zur strategischen Autonomie untermauert. Von der Leyen verkündet eine europäische Rohstoff-Strategie, die zumindest in ihrer Rede eher nach Hamstern als nach diversifizierten Handelsströmen klingt. Dazu kommen ihre Forderungen nach einem 'Sovereignty Fund‘, der nach ersten Äußerungen nach einem neuen europäischen Schuldenprogramm für Industriepolitik klingt. Die genauen Vorschläge der Kommission dazu werde ich sehr kritisch begleiten, denn ich bin davon überzeugt, dass die europäische Wirtschaft zwar Reflexion über Abhängigkeiten, mehr Selbstbewusstsein und auch durchaus mehr made in Europe braucht. Das darf aber nicht zu einem Abrutschen in Protektionismus führen, denn mehr Zusammenarbeit und Handel werden uns in einer vernetzen Welt mehr stärken als Alleingänge.

Aber auch andere Ankündigungen der Kommissionspräsidentin werde ich vom Parlament aus hinterfragen, damit sie nicht nur Lippenbekenntnisse und Schlagzeilen bleiben.

Von der Leyen hat 2023 zum europäischen Jahr der Aus- und Weiterbildung ausgerufen. In Zeiten von Fachkräftemangel und teilweise hoher Jugendarbeitslosigkeit eine Initiative die ich aufrichtig begrüße. Mit Blick auf das 'Jahr der Jugend' 2022, hoffe ich allerdings, dass sich die EU-Kommission mehr Mühe geben wird. Denn auch für das Jahr der Jugend gab es viele Ankündigungen, ein paar gute Events aber keine bleibenden Veränderungen oder Reformen um junge Menschen langfristig stärker in politische Prozesse einzubinden.

Einen großen Reform-Lichtblick gab es dann doch: Ursula von der Leyen fordert nun auch einen EU-Konvent! Was wir als Europäisches Parlament schon länger fordern und das grundlegendste Ergebnis der Konferenz zur Zukunft Europas war, hat nun auch die Kommissionspräsidentin erreicht. Wir müssen die Verträge erneuern, das Einstimmigkeitsprinzip aufgeben und Reformen vorantreiben! Das ist ein wichtiger Vorschlag und ich hoffe sehr, dass von der Leyen jetzt auch bei den Mitgliedsländern um die notwendige Unterstützung wirbt.

Denn, dass eine geeinte EU ein Leuchtfeuer für Freiheit und Demokratie ist, dass sehen wir vor allem daran, wie viel Mut sie anderen machen kann. Die Unterstützung der Ukraine in ihrer Verteidigung gegen Russlands völkerrechtswidrigen Angriffskrieg war und ist vielfältig von Waffenlieferungen über humanitäre und finanzielle Hilfe. Von der Leyens klares Bekenntnis zur Ukraine und ihren Vorschlag, dem Land einen nahtlosen Zugang zum EU-Binnenmarkt zu ermöglichen begrüße ich. Der gemeinsame Markt hat die EU stark werden lassen und der Zugang zum Binnenmarkt wäre eine große Chance für die Ukraine, ihre Wirtschaft wieder aufzubauen. Und ein großer Schritt auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft. Ich bin gespannt auf den konkreten Vorschlag, den die Kommission vorlegen wird.

Und auch ihre Ankündigung eines 'Defence for Democracy' Pakts macht Hoffnung. Wir brauchen Schutz vor Angriff auf unsere Demokratien durch Autokratien mit Fake News oder Einmischung in Wahlen. Dazu gehört auch die Bekämpfung von Korruption. Es ist richtig, dies in den Menschenrechts-Sanktionsmechanismus aufzunehmen. 

Die Kommission muss jetzt auf ihre Versprechen aufbauen und zügig liefern. Denn viele Punkte hat Ursula von der Leyen auch ausgelassen oder sie sind hinter ihre eigenen Ambitionen der letzten Jahre zurück gefallen. Alleine wenn wir uns den Bereich der Digitalisierung ansehen, die eigentlich ein Kernthema der Kommission sein sollte, äußert sie sich fast gar nicht. Das ist nicht nur vor dem Hintergrund, dass in dem Bereich der Digitalisierung auf EU-Ebene gerade sehr viel passiert (z.B.: KI-Gesetz) fatal. Denn die Digitalisierung kann, genau wie der freie Handel, Innovation vorantreiben und Europa zu einem Vorreiter in der Welt machen.

Die 'State of the European Union' Rede enthielt viele große Emotionen, viele wichtige und richtige Ankündigungen und Vorschläge. Trotzdem lässt sie mich enttäuscht zurück. Mir fehlte der rote Faden, der große Aufbruch für eine EU der Zukunft, die sich eben nicht nur von Problemlösung zu Problemlösung hangelt. Ich bin gespannt und vermute, dass wir in der SOTEU 2023, die letzte im Mandat der aktuellen Kommission vor den Europawahlen 2024, mehr Vision erwarten dürfen.